Die Schweiz ist auf der Flucht

Aargauer Zeitung vom Dienstag, 9. April 2019, Text & Bilder von Markus Christen


 

Das Schultheater beschäftigt sich mit der Flüchtlingsthematik und stellt ein Gedankenexperiment an.

 

«Was wäre, wenn?» Dies ist die Grundformel der alternativen Geschichtsschreibung und der Gedankenexperimente. Das Schultheater Seon wendet diese Formel in seiner neuesten Bühnenproduktion auf die Flüchtlingsthematik an. «Was wäre, wenn Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz mit einem Mal zur Flucht aus der Heimat gezwungen würden?», fragen die 14 Schülerinnen und Schüler der 8. und 9. Klasse und inszenieren im Stück «Bis hierhin und noch viel weiter» eine Bühnenwelt, in welcher der europäische Kontinent durch kriegerische Konflikte schwerstversehrt ist und von totalitären Strukturen im Würgegriff gehalten wird.

 

Die Theaterhandlung begleitet dabei eine Fluchtgruppe auf dem beschwerlichen Fussmarsch durch einen von der UNO eingerichteten Flüchtlingskorridor nach Istanbul. Mit verschiedenen dramaturgischen Mitteln werden den Vertriebenen ein Gesicht und ein Name gegeben. So wird die Flucht von einem Massenphänomen zu einem Ereignis umgestaltet, in dessen Zentrum sich Einzelschicksale befinden und auf dem Spiel stehen.

 

Zuschauer sehen nur Ausschnitt

 

Wie es bei Theaterleiter Manfred Stenz üblich ist, konnten die Schülerinnen und Schüler des Freifachs «Darstellendes Spiel» viele eigene Ideen in die Gestaltung des Theaterstückes einbringen. So haben sie beispielsweise die Biografien der Flüchtenden, die sie auf der Bühne verkörpern, selbst entworfen.

 

Doch die Produktion «Bis hierhin und noch viel weiter» stellt nicht nur ein Gedankenexperiment an, mit ihr wird auch ein Bühnenexperiment durchgeführt. Das Schultheater spielt nämlich mitten im Zuschauerraum, der von einem massiven, undurchblickbaren Zaun zweigeteilt wird. Die Zuschauer sehen nur einen Ausschnitt des Schauspiels, die zweite Hälfte der Vorstellung verfolgen sie akustisch mit.

 

Für Theaterleiter Stenz ergibt sich aus dieser inszenatorischen Eigenart ein Gleichnis zu der Weise, wie die tatsächliche aktuelle Flüchtlingssituation durch mediale Vermittlung ins Bewusstsein der Bevölkerung Europas gelangt. «Wir Europäer sehen die Bilder der Flüchtenden im Fernsehen. Aber was wirklich passiert, bleibt unseren Augen verborgen», schreibt er in seinen Anmerkungen zum Theaterstück.

 

«Für die Schülerinnen und Schüler stellte diese Bühnenkonstellation eine besondere Herausforderung dar», so Manfred Stenz. «Sie entspricht nicht ihren Vorstellungen von Theater.» Mittels Improvisationsübungen in diesem aussergewöhnlichen Bühnenrahmen fassten die jungen Darsteller dann Vertrauen im Umgang mit der neuen Spielsituation.

 

Die Schüler der Theatergruppe sagen, dass die Arbeit am Theaterstück auch ihren eigenen Blick auf die derzeitige Flüchtlingsthematik verändert habe. Man lese die entsprechenden Zeitungsberichte mit anderen Augen, sagen sie. «Man liest in die Bilder hinein, die in der Zeitung abgedruckt sind, und bleibt nicht an der Oberfläche», meint eine der Schülerinnen.

 

Manfred Stenz sagt, Probleme könne man mit einem Theaterstück nicht lösen. «Aber es bleibt doch wichtig, dass man die Probleme thematisiert, welche uns heute beschäftigen.»